Ob man es ...  
Mittwoch, September 29, 2010, 09:42 - BÜCHER
... schon sieht? Die Hand zittert nicht, ich stolpere auch nicht oder selten. Heute habe ich wieder einmal mein Portemonnaie in einem Geschäft liegen lassen. Nach einer Stunde ist es aber noch da. Eine gelassene Panik als Grundzustand. Noch bemerke ich Fehlleistungen (gedankliche) nach einer Stunde oder nach Tagen; irgendwo auf der Strasse oder unter der Dusche fällt es mir ein, dass ein Satz, im stillen gedacht oder vor Leuten ausgesprochen, der bare Unsinn ist. Hirnzellen fallen aus, ja, und das ist schon geschrieben, ich weiss, ich weiss. Die Emotionen sind nicht lahm, im Gegenteil. Gestern mein Zorn in Gesellschaft von freundlichen Menschen; ich erinnere mich nicht, was diese Heftigkeit ausgelöst hat. Irgendwo ist ein Draht durchgebrannt, dann rauche ich vor Zorn und werde unerträglich –
CAFE FANELLI:
hier könnte ich eingehen. Nachmittags sind nur wenig Leute hier, ich habe einen ganzen Tisch für mich. Ungern sitze ich an der Bar, wo man im Spiegel hinter den Flaschen sein eigenes Gesicht sieht. Die junge Kellnerin, als sie sieht, dass ich, die Mütze auf dem Kopf, diese Notizen mache, kommt persönlich-freundlich und putzt den Tisch mit einem Lappen, damit es ein Schreibtisch sei ohne diese Bierspuren. Wahrscheinlich auch eine Schauspielerin, die sich hier ihre Batzen verdient, oder eine Malerin; sie ist erst seit einem Monat hier und weiss schon, was ich trinken werde. Ein roter Wein, der kaum zu einem zweiten Glas verleitet, keinesfalls zu einem dritten. Sie plappert nicht übers Wetter, sie nimmt mich ernst.

Max Frisch: „Entwürfe zu einem dritten Tagebuch“. Suhrkamp.

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