Erbauliche Lektüre am Sonntagmorgen. 
Sonntag, Januar 16, 2005, 13:02 - DIALOGE
In der modernen bildenden Kunst ist die Kritik geteilter Meinung über Aufrichtigkeit und Täuschung, Einfachheit oder Komplexität in der abstrakten Malerei. Was ist Ihre Meinung?
Ich sehe keinen wesentlichen Unterschied zwischen abstrakter und primitiver Kunst. Beide sind einfach und aufrichtig. Natürlich sollte man in diesen Dingen nicht verallgemeinern: Was zählt, ist der individuelle Künstler. Wenn wir für einen Moment den Begriff "moderne Kunst" akzeptieren, dann müssen wir zugeben, dass ihre Schwäche in der Abgedroschenheit, ihr imitativer Charakter, ihr Akademismus ist. Es haben nur Flecken und Kleckse die Gefälligkeit von vor hundert Jahren abgelöst, die Bilder von italienischen Mädchen, gutaussehenden Bettlern, romantischen Ruinen und so fort. Aber genau wie sich unter jenen kitschigen Ölgemälden das Werk eines wahren Künstlers mit einem reicheren Spiel von Licht und Schatten finden konnte, mit einer originellen Strähne von Wildheit oder Zartheit, so kann einem auch unter dem Kitsch der primitiven und abstrakten Kunst das Aufblitzen einer grossen Begabung begegnen. Nur die Begabung interessiert mich an Gemälden und Büchern. Keine allgemeinen Ideen, sondern der individuelle Beitrag.
Ein Beitrag zur Gesellschaft?
Für die Gesellschaft hat ein Kunstwerk keinerlei Bedeutung. Wichtig ist es allein für das Individuum, und nur der individuelle Leser ist für mich wichtig. Die Gruppe, die Gemeinschaft, die Massen und so weiter - das ist mir schnurzegal. Obwohl ich für das Schlagwort "l' art pour l' art" nichts übrig habe - weil seine Vertreter wie Oscar Wilde und verschiedene zierliche Poeten in Wahrheit derbe Moralisten und Pädagogen waren -, kann kein Zweifel bestehen, dass nicht seine gesellschaftliche Bedeutung ein Werk der Fiktion vor Larven und Rost schützt, sondern seine Kunst, ganz allein seine Kunst.
Was möchten Sie leisten oder zurücklassen - oder sollte sich ein Schriftsteller keine Sorgen darum machen?
Nun, was die Leistung angeht, habe ich natürlich keinen Fünfunddreissigjahresplan und kein Programm, aber von meinem literarischen Nachleben habe ich gewisse Ahnungen. Ich habe gewisse Hinweise verspürt, habe die Brise gewisser Versprechungen gefühlt. Zweifellos wird es Aufs und Abs, wird es lange Perioden der Baisse geben. Mit stillschweigender Duldung des Teufels schlage ich eine Zeitung des Jahres 2063 auf, und in irgendeinem Artikel im Literaturteil lese ich: "Keiner liest heutzutage Nabokov oder Fulmerford." Schreckliche Frage: Wer ist dieser unselige Fulmerford?
Im Augenblick scheinen Sie damit ganz gut zurechtzukommen, wenn ich so sagen darf.
Es ist eine Illusion.
Ihre Antwort könnte als Bestätigung dafür genommen werden, dass Sie ein "unverbesserlicher Possenreisser", "ein Mystifikator" und "ein literarischer agent provocateur" sind. Wie sehen Sie sich selber?
Ich glaube, am liebsten an mir selber ist mir die Tatsache, dass mir Geifer und Galle eines Kritikers niemals etwas ausgemacht haben, dass ich nie im Leben einen Rezensenten um eine Rezension gebeten oder mich dafür bedankt habe. Meine zweite Lieblingstatsache - oder soll ich es bei der einen belassen?
Nein, bitte fahren Sie fort.
Es ist die Tatsache, dass meine politische Überzeugung seit meiner Jugend - ich war neunzehn, als ich Russland verliess - so kahl und unverändert geblieben ist wie ein alter grauer Fels. Sie ist klassisch bis zur Trivialität. Redefreiheit, Gedankenfreiheit, Kunstfreiheit. Die soziale und ökonomische Struktur des Idealstaates kümmert mich wenig. Meine Wünsche sind bescheiden. Die Portraits der Regierungschefs sollten Briefmarkengrösse nicht überschreiten. Keine Folter und keine Hinrichtungen. Keine Musik, ausser per Kopfhörer oder in Auditorien.
Warum keine Musik?
Ich habe kein Gehör für Musik, ein Handicap, das ich tief bedaure. Wenn ich ein Konzert besuche - was etwa alle fünf Jahre vorkommt - bemühe ich mich mutig, die Sequenz und die Beziehung der Töne zu verfolgen, aber länger als ein paar Minuten halte ich es nicht durch. Visuelle Eindrücke, Spiegelungen von Händen in lackiertem Holz, ein fleissiger kahler Fleck über einer Fiedel - dergleichen drängt sich in den Vordergrund, und bald langweilen mich die Bewegungen der Musiker masslos. Meine Musikkenntnisse sind sehr gering; und ich habe einen besonderen Grund, mein Unwissen und meine Unfähigkeit so traurig, so ungerecht zu finden: In meiner Familie gibt es einen wunderbaren Sänger - meinen Sohn. Seine grosse Begabung, die seltene Schönheit seiner Bassstimme und das Versprechen einer grossen Karriere - alles das berührt mich tief, und bei einem technischen Gespräch unter Musikern komme ich mir vor wie ein Narr. Der vielen Parallelen zwischen den Kunstformen der Musik und der Literatur bin ich mir völlig bewusst, vor allem in Sachen der Struktur, aber was kann ich machen, wenn mein Ohr seine Mitarbeit verweigert? Einen sonderbaren Ersatz für die Musik habe ich im Schach gefunden - genauer in der Komposition von Schachaufgaben.
(...) Eine letzte Frage: Glauben Sie an Gott?
Um ganz offen zu sein - und jetzt sage ich etwas, was ich noch nie gesagt habe, und hoffe, dass es ein heilsames Frösteln hervorruft -, ich weiss mehr, als ich in Worten ausdrücken kann, und das wenige, was ich ausdrücken kann, wäre nicht ausgedrückt worden, hätte ich nicht mehr gewusst.

Der hier in einem Ausschnitt wiedergegebene Wortwechsel erschien im Januar 1964 im PLAYBOY. Und der gesamte Wortwechsel wiederum - zusammen mit vielen weiteren herrlichen Interviews, Leserbriefen und Aufsätzen - ist zu finden in:
Vladimir Nabokov: DEUTLICHE WORTE. Gesammelte Werke, Band XX; herausgegeben von Dieter E. Zimmer; Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg.

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