BERNstadt-Ansichten. Nr. 34, vom 03.04.2005. 
Sonntag, April 3, 2005, 17:46 - BERN
Nicht nur die Blumen...

... nicht nur die Knospen an den Bäumen...

Dazu liefert der unvergleichliche Harald Martenstein, der Draussensitzen nicht mehr normal findet, mit "Alles kommt raus" gleich den passenden Text (ZEIT Nr. 14/31.März 2005):
(...) "Als bald darauf die Sonne herauskam, stellten die Cafés, Restaurants, Schankstuben et cetera ihre Tische nach draussen. Das habe ich aus Gewohnheit ganz normal gefunden. Erst nach längerem philosopischem Hinsehen habe ich bemerkt, dass bei zahlreichen gastronomischen Betrieben das "Draussen" zum entspannten Verweilen eigentlich wenig geeignet war. Bistrotische mit Teelichtern darauf standen neben vierspurigen Schnellstrassen, in lichtlosen, betonierten Hinterhöfen, wo Lkw parkten, oder neben Hundekotabwurfplätzen, die sich nicht gewaschen hatten. Wir haben das genaue Hinschauen verlernt! Gartenlokale mit Vogelgezwitscher sind zweifellos angenehm. Aber was erhoffen sich die Menschen davon, neben der Schnellstrasse nach Konstanz oder neben einem Viertelpfund Dalmatinerstuhl ein Schnitzel zu essen? Daraufhin habe ich meine Beobachtungsgabe weiter zugespitzt. Ich bin in die Lokale hineingegangen. Innen war es immer viel netter, auch ruhiger. Nirgendwo lag Kot. In keinem einzigen Lokal parkte ein Lastwagen. Als es kühler wurde, stellten die Wirte Heizstrahler nach draussen, denn ein Publikum, das sich durch Architektur, durch Gerüche und durch Lärm nicht vom Draussensitzen abhalten lässt, wäre inkonsequent oder sogar charakterlich fragwürdig, wenn es wegen des zusätzlichen Stressfaktors Kälte plötzlich nach drinnen ginge.
Das Einzige, was nach meiner Beobachtung die Menschen in Deutschland zuverlässig vom Draussensitzen abhält, sind starke, anhaltende Regengüsse und Hagel. Kurze Schneeschauer oder leichtes Nieseln dagegen genügen nicht mehr.
Bevor das Draussensitzen zu einer deutschen Amour fou wurde, hiess es in den Cafés oft: "Draussen nur Kännchen." Bald wird es heissen: "Drinnen nur Kännchen", denn unsere Welt ist aus dem Lot geraten. Unter einer Amour fou versteht man eine Liebe, an welcher der Liebende letztlich zerbricht, ungefähr so, wie ein Mensch innerlich zerbricht, der einen ganzen Sommer lang neben Bulldoggenkot Schnitzel isst. Meiner Ansicht nach versuchen die Deutschen, Deutschland in San Remo zu verwandeln, indem sie auf vernunftwidrige Weise so tun, als ob Deutschland San Remo sei. Ein ähnliches Verhalten wie der Draussensitzer zeigen Menschen, die mit ihrem Geschlecht unzufrieden sind, so, wie andere mit dem Wetter unzufrieden sind, und deswegen einfach Kleider des anderen Geschlechts tragen. In Deutschland hat sich das Klima in den letzten Jahren des Draussensitzens ja tatsächlich ein wenig erwärmt. Womöglich ist also auch das Transvestitentum nicht so aussichtslos, wie es scheint.
Ein Land, das zum Draussensitzen noch ungeeigneter ist, heisst Alaska. In Alaska soll jetzt das grösste Naturschutzgebiet geschlossen und in ein Ölbohrgebiet umgewandelt werden, weil die dort draussen lebenden Karibuhirsche nach Erkenntnissen des amerikanischen Geheimdienstes über Massenvernichtungswaffen verfügen. Gibt es denn kein richtiges Leben im Draussen? Aber ich bin nicht Adorno. Ich bin nur ein Chronist."

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