Im Land der "livre chocs". 
Sonntag, Oktober 9, 2005, 13:14
...oder wie die Menschen DER Kulturnation ihre Raubtiernatur kaschieren und den Schein mit eleganter Grandezza wahren...
Michael Mönninger zeichnet in der ZEIT Nr. 41 vom 06.10.2005 ein amüsantes Sittenbild zur Lage der Grande Nation:
Zu einer der größten kulturellen Ausnahmen Frankreichs zählt, dass das Land keine ausgeprägte Boulevardpresse besitzt. Abgesehen von einigen harmlosen Klatschzeitungen wie Le Parisien oder France Soir, fehlen Krawall- und Kampagnenblätter wie die britische Sun oder die Bild-Zeitung völlig. Von der Zurückhaltung der Presse profitierten bislang vor allem Politiker, deren Privatsphäre strikt gegen die Neugierde des Publikums abgeschirmt war. (...)
Wie immer, wenn die Obrigkeit etwas deckelt, sucht sich die Zivilgesellschaft neue Ventile. Unbeeindruckt von Respektabständen und Schutzvorkehrungen, kennen die Franzosen, die ihre Raubtiernatur deutlich besser als andere Völker kaschiert haben, längst eigene Wege der Lustbefriedigung. Weil nicht nur Boulevardblätter, sondern auch Brüllshows und bizarre Beichtkanäle im Fernsehen fehlen, kommen Abrechnungen und Enthüllungen vorzugsweise in Buchform ans Licht der Öffentlichkeit. »Livre choc« nennen selbst angesehene Verlage diese Titel, in denen jede Saison dutzendfach Prominente seziert, Denkmäler gestürzt oder Familienkatastrophen ausgebreitet werden. (...)
Doch wohl auch dieses Werk – ganz wie die anderen Schock-Bücher – wird kaum obszön oder ehrverletzend ausfallen, sondern elegant erzählt und angenehm lesbar sein. Darin kann man den Vorteil einer Kulturnation sehen, die selbst beim Appell an niedere Instinkte immer noch die gepflegte Buchform wahrt. Im Gegensatz zur Schärfte angelsächsischer oder auch deutscher Enthüllungsstorys glaubte man auf dem französischen Boulevard bislang nicht, dass Schadenfreude ausreicht, um klug zu werden. Erst seit dem Schwinden dieser Skepsis droht in Frankreich auch der tradierte Persönlichkeitsschutz zu fallen.

Den ganzen Artikel kann man hier nachlesen.

Jardin de Luxembourg, Oktober 2005

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