Melancholie. 
Mittwoch, November 2, 2005, 20:50 - SPURENSUCHE

Bald, sehr bald schon werden diese Gläser zum letzten Mal gefüllt...

... dann gehen die Lichter aus...

... und anschliessend stehen Räume wie dieser hier plötzlich einfach leer, vielleicht für Jahre, Jahrzehnte - dem eigenartigen Schicksal unzähliger Grand Hotels folgend.

Familie Baumann aus Deutschland ist nochmals angereist. «Wir sind verrückt nach diesem Hotel, in drei Jahren waren wir 14-mal hier», schwärmt Herr Baumann. Doch dann überkommen ihn Traurigkeit und Ärger. Denn das Grand Hotel Locarno schliesst am kommenden Wochenende seine Pforten. Am 5. November ist definitiv Schluss. Es ist keine gewöhnliche Winterpause, sondern das Ende einer Epoche, auch wenn noch vereinzelt Bankette stattfinden werden. Die Eigentümer kündigten Hoteldirektor Urs Zimmermann den dreijährigen Pachtvertrag vorzeitig auf, um – wie es hiess – «eine Reflexionspause einzulegen». 25 Mitarbeiter verlieren ihre Stelle.
Mit dem Dreisternhotel und seinem einzigartigen Charme des Vergänglichen ist es in der jetzigen Form bald vorbei. Concierge Olivier – seit sieben Jahren im Hotel tätig – ist wie viele Gäste untröstlich: «Es ist eine Schande, dieses historische Haus zu schliessen.» Er erzählt von etlichen Stammgästen, die in diesen Tagen kommen, «um Abschied zu nehmen». Eine Unterschriftensammlung liegt an der Reception «Rettet das Grand Hotel». Rund 1500 Personen haben unterschrieben, darunter Bundesrat Pascal Couchepin undFDP-Nationalrat Filippo Leutenegger – während des Filmfestivals, wenn das Haus ein Dreh- und Angelpunkt des cinephilen Lebens ist.

Zukunft unklar
Die Zukunft des historischen, 1875 erbauten Hotels mit seinen prachtvollen Sälen steht in den Sternen. Sicher ist nur: Die Eigentümergemeinschaft will das Objekt verkaufen oder allenfalls einen Pachtvertrag über einen sehr langen Zeitraum (20 bis 30 Jahre) abschliessen. «Der Kaufpreis beträgt 22 Millionen Franken, 18 Millionen für Haus und Umschwung, 4 Millionen für das Inventar», sagt Giancarlo Cotti, der die fünf Eigentümer vertritt. Er dementiert Berichte, wonach der Preis auf 16 Millionen Franken gesunken sei. Es gebe ernsthafte Interessenten, präzisiert er. Aber: «Nicht der Kaufpreis schreckt ab, sondern die nötigen Investitionen.» Diese Einschätzung war in den letzten Jahren häufig zu hören. Etliche Millionen sind für eine Renovation nötig.
Was bisher nicht bekannt war: Unter den potenziellen Interessenten befindet sich auch die New York Film Academy (NYFA). Die renommierte Filmschule, die Regisseure, Schauspieler und Drehbuchautoren ausbildet, will ihr Netz an europäischen Niederlassungen (bisher Oxford, Paris und Florenz) ausbauen, schon 2006 eine Filiale in der Schweiz gründen und dazu ein repräsentatives Hotel nutzen. Von den vorgeschlagenen Objekten scheint das Grand Hotel Locarno besonders interessant zu sein. Locarno ist Filmfestivalstadt, im Park des Grand Hotel begann das Filmfestival 1946, Venedig und Cannes sind nicht allzu weit entfernt, das Klima im Tessin mehr als angenehm. «Es gehört definitiv zur engeren Wahl», heisst es bei der NYTA auf Anfrage.
Nicht zum ersten Mal werden alternative Nutzungen des Grand Hotels diskutiert. Von einem Sitz für die kantonale Hotelfachschule war bereits die Rede. Doch daraus wurde genauso wenig wie aus dem Projekt für den Umbau in eine Spielbank. Und die Befürchtung besteht, dass das nicht unter Denkmalschutz stehende Grand Hotel womöglich nach einer Veräusserung ganz oder teilweise in luxuriöse Wohnungen umgebaut wird.

Spendensammlung
Um das Hotel zu retten und sanft zu renovieren, ist inzwischen auch eine Privatgruppe um Hotelier Urs Zimmermann aktiv geworden. Mit dem Verein Pro Grand Hotel Locarno wird eine gross angelegte und schweizweite Spendensammlung lanciert. Allerdings: Falls die Spendensammlung bis Ende Juni 2006 nicht annähernd 20 Millionen Franken ergibt, wird die Aktion abgebrochen und der Verein aufgelöst. Vorstandsmitglied und Optiker Felix Stiefel ist sich bewusst, dass das Ziel hoch gesteckt ist: «Aber ich will mir nicht einmal vorwerfen, nicht alles zur Rettung dieses Hauses versucht zu haben.»

Gute Saison 2005
Die Bemühungen zur Rettung des Hotels sind umso verständlicher, wenn man bedenkt, wie gut die Saison 2005 gelaufen ist. Von der Schliessung anderer Gästehäuser wie dem Albergo Muralto, Zurigo und Beau Rivage konnte das Grand Hotel profitieren. Die Auslastung war sehr gut, und das nicht nur zu Filmfestivalzeiten. Dies räumt auch Giancarlo Cotti ein. Gleichwohl gebe es in der jetzigen Eigentümergemeinschaft keine Mehrheit für nötige Investitionen, sagt er. Vom gross geplanten Kehraus mit einer Öffnung zu Sylvester, wie vom Hotelmanagement gewünscht, hält Eigentümer Cotti nicht viel. Er befürchtet, dass sich viele Gäste dann ein Souvenir mit nach Hause nehmen und das Inventar somit verschwindet. (...)

Text: Gerhard Lob, in der Tageszeitung BUND vom 31.10.05.

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