Vor etwa zehn Jahren... 
Mittwoch, Januar 4, 2006, 08:42 - BÜCHER
rede an friederike mayröcker

einmal war sie sieben, und auf einmal ist sie siebzig. friederike mayröcker nimmt das zur kenntnis.
was ist geschehen? zur sieben ist eine null getreten – das ist alles. friederike mayröcker nimmt es gelassen zur kenntnis.
die glückwünsche häufen sich in einem korb, nein, in körben. kari krolow, seinerzeit, bedankte sich für einen jeden – bis zum physischen zusammenbruch. dass es friederike mayröcker nicht so ergehen möge, ist mein erster wunsch.
mein nächster ist: wenn du, friederike, hundertzwanzig jahre tatsächlich zu werden gedenkst, in anbetracht all deiner literarischen vorhaben, dann mögest du mit hundertzwanzig so agil wie heute mit den bis dahin fünfzigjährigen feiern, die jetzt noch unsere ungeborenen kinder sind, und natürlich mit deren kindern, die dann zwischen zwanzig und dreissig sein werden, und natürlich mit allen von uns, die dann erst 75 sein werden, weil sie jetzt schon 25 sind. man könnte meinen, das leben sei ein zahlenspiel, was es ja auch ist, wenngleich nicht das allein. (…)

(...) „noch leben alle, die wir lieben“, endete ein früher text von friederike mayröcker. heute, der vater ist lange schon tot, und seit dem letzten november ebenfalls die mutter, sollte man den satz nicht wenden, „wir lieben alle, die noch leben“? (…)

(...) unser leben ist, seit vierzig jahren, ein gemeinsames, ohne eine gemeinsame wohnung, und ohne kochtopf. der turbulente anfang wich alsbald einer bis heute anhaltenden ereignislosigkeit, ohne idylle. unbemerkbarkeit gab uns durch jahrzehnte die graue lehrerhülle, deren wir uns endlich, zögernd, entledigten. unbemerkbar, in vielerlei form, sind wir geblieben. kunst allerdings lässt sich nur bewerkstelligen mit dem anspruch, vor allem an einen selbst, auf einen ersten platz, erreichbar, wenn überhaupt, so nur durch unermüdliche arbeit, durch auseinandersetzung und kampf. friederike mayröcker hat einen solchen platz erreicht, wir freuen uns darüber und gratulieren ihr. doch hätten wir von ihr und ihrem werk kaum etwas erfasst, würden wir nicht in jeder ihrer äusserungen die unerschöpfliche kraft ihrer liebe erkennen.

Aus: E. Jandl, "lechts und rinks" - gedichte statements peppermints.
Sammlung Luchterhand, 1995. ISBN 3-630-62043-4

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