Ich bin dermassen infiziert... 
Samstag, Februar 10, 2007, 07:55 - BÜCHER
... dass ich jetzt auch täglich mindestens 1 Cioran einnehmen muss.
Risiken und Nebenwirkungen durchaus geniessend.

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2. August 1957. Selbstmord von E.: ein riesiger Abgrund tut sich in meiner Vergangenheit auf. Tausend erlesene und herzzerreissende Erinnerungen steigen empor.
Sie liebte so sehr den Verfall! Und dennoch hat sie sich umgebracht, um ihm auszuweichen.

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Seitdem ich eine ziemlich strenge Diät befolge und ein regelmässiges Leben führe, bringe ich es zu nichts mehr. Fünf Jahre Sterilität, fünf Jahre Vernunft. Mein Geist funktioniert nur dank der Unordnung und irgendeiner Vergiftung. Ich zahle teuer für den Verzicht auf Kaffee.

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5. Oktober. Heute abend während meines gewohnten Spazierganges um den Luxembourg habe ich ohne Unterbrechung spanische Reime vor mich hingesummt, ziemlich laut wohl, da sich alle Leute umgedreht haben. Ich befand mich in einer jener Krisen, in denen die Überspanntheit die Depression übertrifft. Vermutlich hat man mich für einen Irren oder für einen Glücklichen (nicht dieser Erde, Gott weiss woher) gehalten. In einem gewissen Sinne war ich glücklich. Ich habe nämlich in Gedanken die ganze Nacht von Talamanca wieder erlebt, in der ich gegen 3 oder 4 Uhr morgens aufgestanden bin, um mich auf die steilen Felsen, die das Meer überragen, zu begeben in der Absicht, 'ein Ende zu machen'. Ich trug meinen Schlafanzug und darüber einen schwarzen Regenmantel. Einige Stunden lang bin ich auf den Felsen geblieben, bevor das Tageslicht meine düsteren Gedanken vertrieb. Aber sogar vor dem Sonnenaufgang schien mir die Schönheit der Landschaft, die Agaven auf dem Weg, das Rauschen der Wellen, und schliesslich der Himmel so schön, dass mein Vorhaben mir unangebracht, oder wenigstens übereilt vorkam. Wenn alles irreal ist, dann auch diese Landschaft, sagte ich mir. Es ist möglich, sogar wahr, lautete meine Antwort, aber diese Irrealität gefällt mir, verführt und tröstet mich. Die Schönheit ist nicht vollständig Illusion, sondern eine angebrochene Illusion, ein 'Anfang' von Wirklichkeit.


E. M. Cioran: Cahiers 1957 - 1972. Suhrkamp. ISBN 978-3-518-41274-9

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