Noch ein Tagebuchschreiber. 
Samstag, Mai 10, 2008, 22:31 - BÜCHER
Ich verdanke meine Bücher den Städten – ein fast schon billiger Refrain. Die Stadt erpresst dir die Sprache. Sie umgibt dich mit steinernem Druck, mit der komplexesten Verdichtung von Geschichte und Menschengeschichten, du hast das Wort auf der Zunge. Einmal wird es dir entschlüpfen. Du läufst durch die Stadt und rennst den erlösenden Wörtern nach. Sie wird dich an sich und zurücknehmen. Auch in die Arme und an die Brust und noch tiefer einvernehmen.

1. Februar 1990, Paris

[Paul Nizon - Portrait.]

Kesser hatte damals schon mehrere Herzinfarkte hinter sich, und der Leibarzt Fortunat Muehlon, dessen Porträt ich damals skizzierte, war mehr Freund und Zechgenosse als besorgter Arzt, wenigstens im Umgang mit Kesser. Zu dritt haben wir oft bei unserer Gönnerin Champagner und Whisky getrunken und Puccini angehört bis in die Morgenstunden. Er hielt sich immer in Rom auf, immer im „Minerva“. Wie ihn die Wahl des Papstes Johannes XXIII. jubeln liess. Wie wir zusammen in Rom wandelten, auch auf den Spuren der Etrusker, wie er mit einem Telegramm die Vollendung des Canto feierte. Canetti hat mir einmal gesagt, ich müsse ausgezeichnete Schulen besucht haben. Hatte ich nicht, wohl aber war ich bei Kesser in die Schule gegangen. Sagte ich Canetti. Das muss es sein, sagte er.

Sein Tod wurde mir folgendermassen berichtet: Armin befand sich bei Freunden im Tessin, es war Mittag, man trank Champagner. Eben war eine Mozartplatte zu Ende gespielt. Bitte leg’ sie noch einmal auf, sagte er zu seiner Begleiterin. Sie lief zum Plattenspieler, hört das Splittern von Glas, dreht sich um und fängt Kesser auf, er stirbt in ihren Armen. Es war Mittag.

29. Mai 1997, Paris.

[Paul Nizon: Die Zettel des Kuriers. Journal 1990 - 1999. Suhrkamp.]

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