Mittelmass. 
Dienstag, Oktober 21, 2008, 05:59 - BÜCHER
Sich einen Dichter denken, der seinen besten Text veröffentlicht und alles andere zurückbehalten hat. Dieser eine Text aber ist so schwierig, dass er sich den Lesern verweigert und versperrt, weshalb niemand weiss, wer der Dichter ist und was er kann. Dieser, verzweifelt über die Reaktionslosigkeit der literarischen Welt, veröffentlicht seine übrigen Texte, die noch guten, die mittelmässigen und die schlechten – und allmählich wird er ein berühmter Mann, dessen schlechteste Texte schliesslich am meisten gefeiert werden. Wie er allgemein als grosser Künstler anerkannt ist, muss er sich verachten; denn sein Mittelmass ist sein Ruhm, und er weiss, dass er dieses Mittelmass ist. Er bringt sich um.
So ähnlich verläuft die Karriere vieler Schriftsteller. Am Ende fehlen lediglich die Selbsterkenntnis und die Scham. Das rettet ihr Leben, aber tötet sie als Dichter.

Hans Saner: Die Anarchie der Stille. Lenos.

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