Eines Tages bemerkt ein später Jüngling... 
Sonntag, November 23, 2008, 21:41 - BÜCHER
... dass der Weg, den er auf gut Glück eingeschlagen hat, unwiderruflich sein wird. Die Pforte ist im Begriff, sich hinter ihm zu schliessen. Er kommt in das Alter, in dem man nicht mehr von vorn anfängt, das Alter, in dem man alt zu werden beginnt, in dem man akzeptieren muss, in der Gesellschaft einen Platz einzunehmen, der einen zwingt, als Anderer unter den Anderen zu existieren. Lange bevor das Altern ein biologisches Schicksal ist, ist es ein soziales Schicksal.
Dieses Fragment, das als Epilog zu DER VERRÄTER erscheint, ist im Dezember 1961 und im Januar 1962 in LES TEMPS MODERNES unter dem Titel “Le Vieillissement” veröffentlicht worden. Vierzig Jahre später gibt es die Frage, die darin untersucht wird, noch immer: “Wie kann man in diese Gesellschaft eintreten, ohne auf die Möglichkeiten und die Wünsche zu verzichten, die man in sich trägt?”

(…) Er merkte, dass er ein Alter hatte. Er war 36 Jahre alt.
Diese Erkenntnis war ihm unangenehm. Sie weckte rückwirkend eine Menge jäher kleiner Gedanken, denen er keine Aufmerksamkeit geschenkt hatte und die im Licht seiner Entdeckung Bedeutung gewannen: Er hatte ein Alter. Das hatte er nicht immer gehabt. Lange Zeit, in den wichtigsten Jahren seines Lebens (ein Satz, der ihn, als er ihm entfuhr, bestürzte), hatte er überhaupt kein Alter gehabt; er fing unaufhörlich von vorne an, und die Jahre zählten nicht. Mit dreiundzwanzig hatter er ebenso wenig ein Alter wie mit zweiundzwanzig, und auch als er vierundzwanzig oder sogar fünfundzwanzig wurde, dachte er nicht daran, sich eines zuzulegen. Jetzt aber änderte sich das. Sechsunddreissig war bereits ein Alter, siebenunddreissig noch mehr: Es war das Alter, in dem erwartet wird (schon wegen der Kleinanzeigen “Suchen Mann zwischen 30 und 35” oder “Mann unter 35” oder “erfahrenen Fachmann, 35”), dass man etwas geleistet hat, was einen festlegt und einem ein für allemal einen Weg vorzeichnet, auf dem man einfach nur weiterzugehen braucht. Kurz, wenn er noch nichts geleistet hatte, war er bereits ein Versager, und wenn er etwas geleistet hätte, müsste er sich daran halten, sofern er keiner werden wollte. Jedenfalls würde seine Vergangenheit seine Zukunft vorherbestimmen.
Unangenehm war ihm nun aber gerade, dass er seine Tätigkeiten noch nie unter diesem Blickwinkel betrachtet hatte (...)

Beide Texte aus: André Gorz: Der Verräter. Mit dem Essay “Über das Altern”.
[Rotpunktverlag], 2008. ISBN 978-3-85869-379-2

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