Tomi Ungerers Pragmatismus - 2. Teil. 
Samstag, Mai 15, 2010, 19:50 - PRESSE
Es ist ein Irrglaube, dass gute Kinderbuchautoren unbedingt grosse Kinderfreunde sein müssen. Ich wollte nie Kinder haben. Es waren die Frauen, die das ohne mein Jawort bewerkstelligt haben. Ich bin mein eigenes Kind, wozu brauche ich noch mehr? Ich habe auch niemals Windeln gewechselt, weil Babys nicht mein Ding sind. Ich habe kein Talent für sie und empfinde auch nichts, wenn ich sie im Arm halte – ausser Fremdheit und der Angst, sie fallen zu lassen. Meine Kinder haben mir erst Spass gemacht, als sie endlich sprechen und basteln konnten.

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Dass ich ein Kind geblieben bin, ist auch eine Form von Autismus. Künstler sind selbstbezogen und scheuen die Verantwortung für andere, weil sie sich von morgens bis abends bespiegeln müssen. Deshalb sollten sie besser kinderlos bleiben. Das Familienleben raubt Kraft und zerstört die Konzentration. Ich weiss noch, wie eifersüchtig ich war, als meine Frau keine Zeit mehr hatte, mir mit Stricken und Ketten gefesselt Modell zu stehen. Es klingt unmodern, aber ich bedaure alle Kinder, die mit einem alleinerziehenden Vater gross werden müssen, denn tiefe, tatsächliche Liebe kann nur die Mutter geben. Fehlt diese Liebe, wird das Kind sich später rächen.

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Als kleiner Junge habe ich mich Hunderte Mal hingekniet und Gott angefleht, er möge mir den Glauben schenken – aber er kam nicht. (…) Meine Religion ist der Zweifel, und mein Gott ist der gute Wille. Die Bibel bewundere ich wegen Sätzen wie: «Wenn ihr nicht umkehret und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen.»

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Man kann auch ohne Gott Christ sein. Der wichtigste Wert ist Respekt, denn aus Respekt entsteht Moral. An zweiter Stelle kommt meine Lieblingsphilosophie: die Freundlichkeit.

Ausschnitte aus Man muss Kinder traumatisieren - Sven Michaelsen im Interview mit Tomi Ungerer. Erschienen in der Weltwoche Ausgabe Nr. 19 vom 12. Mai 2010.

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