Sie gab kaum Interviews. 
Dienstag, Juni 14, 2011, 00:14 - LEBENSLAUF
Sie mied Journalisten, Fotografen und Filmemacher gleichermassen; seit Jahren trat sie auch kaum mehr öffentlich auf. Aus gut unterrichteten Quellen wusste a.more.s zwar, dass sie zwischen Japan, Argentinien, Belgien und der Schweiz hin- und herpendelte, dass sie weiterhin rast- und ruhelos am Klavier sass, dass sie die Kammermusik pflegte, dass sie sich um junge Talente kümmerte und sie förderte – doch mehr nicht. Daher war es wie eine Offenbarung, als er im Vorfeld der [Visions du Réel] 2002 in Nyon erfuhr, dass dort eine Dokumentation über (und mit) Martha Argerich zur Uraufführung gelangen sollte. [Georges Gachot], einem Schweizer Dokumentarfilmer, war es doch tatsächlich irgendwie gelungen, sehr nahe an die kapriziöse Dame heranzutreten und ein Gespräch aufzuzeichnen – nachts! Denn wie sich das für eine richtige Diva gehört, hat man so seine Eigenheiten, denen man sich unterzuordnen hat. Und eine der besonderen Eigenheiten der Martha Argerich ist es, dass sie vor allem nachts lebt und arbeitet.

Kurz: Die angekündigten [Evening talks] wollte sich a.more.s auf keinen Fall entgehen lassen, zumal er wusste, dass die Argerichs u.a. auch am Genfersee eine Liegenschaft besassen, in welcher sie zwischendurch logierten, und dass es in Nyon üblich ist, dass Filmemacher und ihre Darsteller meist auch persönlich anwesend sind.

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Mit dem im Vorverkauf erstandenen Ticket in der Tasche machte er sich also auf nach Nyon. Er war viel zu früh dort, und da er sich ausschliesslich auf diesen einen Film konzentrierte, hatte er viel Zeit totzuschlagen. Ganz unten am See, in der Usine à Gaz, welche damals noch DAS Informationszentrum mit integriertem, hübschem Bistrot war, gelang dies meistens nicht schlecht. A.more.s setzte sich an einen der Tische, bestellte einen Weissen aus der Region, etwas zum Knabbern und arbeitete sich dann durch die Kataloge, Flyer, Presseunterlagen sowie die aktuellen Tages-Informationen.

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Irgendwie kam er dann mit einer jüngeren, dunkelhaarigen Schönheit mit leicht asiatischen Zügen ins Gespräch. Aus dem anfänglichen, unverbindlichen small-talk wurde zunehmend eine sehr anregende Unterhaltung mit einer – wie soll a.more.s das jetzt ausdrücken – doch ziemlich entzückenden, um nicht zu sagen: faszinierenden Persönlichkeit. Es stellte sich bald einmal heraus, dass sie ebenfalls hier in Nyon war, um sich [genau denselben Film] – und nur den! – anzuschauen. Die Zeit verging wie im Flug, und da beide das genau gleiche Ziel hatten, begab es sich, dass sie dann auch gleich zusammen die Usine à Gaz verliessen, um in Richtung Kinosaal aufzubrechen, welcher sich weiter oben im Städtchen befand.

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Und da die Plätze nicht nummeriert waren, nahmen sie auch gleich – warum denn eigentlich nicht – nebeneinander Platz. Die Lichter im Saal wurden leicht heruntergefahren, Georges Gachot erschien im Scheinwerferlicht auf der improvisierten kleinen Bühne vor der Leinwand und setzte zu einer kleinen Einführung in die Vorgeschichte seiner Dokumentation an. Er bedauerte ausserordentlich, dass Martha Argerich nicht wie vorgesehen persönlich anwesend sein konnte (sie hatte in letzter Minute absagen müssen), doch er wisse von ihr, dass Lyda Chen, eine ihrer Töchter, hier im Publikum anwesend sei, und er habe die grosse Ehre und freue sich, trotzdem noch eine Frau Argerich vorstellen zu dürfen, und er möchte Lyda Chen Argerich doch bitten, sich freundlicherweise und stellvertretend für ihre Mutter zu erheben.
Einer der Scheinwerfer im Saal machte sich auf die Suche im Publikum und richtete sich nach kurzer Zeit - ach-du-meine-Güte!! - ausgerechnet und haargenau auf die Person direkt neben a.more.s, welche sich zwar etwas widerstrebend erhob ("aaaah, maman!!! non!"), sich aber artig lächelnd unter dem tosenden Applaus des Publikums verbeugte und dann recht schnell wieder setzte.

Man hat a.more.s selten so perplex dasitzen sehen.

Es ist nicht überliefert, wie er den nachfolgenden Film mitbekommen hat. Wenn überhaupt.
Auch darüber, wie die kleine Zufallsbegegnung aus- bzw. weitergegangen ist, schweigt sich a.more.s beharrlich aus.
Als gesichert gilt lediglich, dass er sich den Film später am Fernsehen und in den Kinos wieder und wieder und immer wieder angeschaut hat.

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Kleine musikalische Zugabe: Mutter & Tochter bei einem der seltenen [gemeinsamen Auftritte.]

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