"So viel unvermittelte Empörung ... 
Donnerstag, Juni 27, 2013, 08:18 - PRESSE
... finde ich verdächtig. Franz Biberkopf in «Berlin Alexanderplatz» war auch empört, und er wurde damit zum Faschistenfutter. Man muss aufpassen. Ich sehe viel Demagogie, viel Populismus. Das heisst nicht, dass ich die Realität nicht sehe. Banken, Politiker, alle haben gestohlen und betrogen. Doch so schnell, wie die Empörten das fordern, kann man daran nichts ändern. Die Zyklen einer Gesellschaft sind langsamer. Ich fürchte, letztlich geht es denen auch nur ums Geld. - Hätten alle so viel Geld wie zuvor, ginge keiner auf die Strasse. Was mir fehlt, sind Werte. Wofür protestieren die eigentlich? Zugleich wird das Leben als Aussenseiter salonfähig. Es gibt sogar schon Fernsehserien über die Protestszene und die Leute, die sich darin eingerichtet haben. Der Pöbel kommt richtig sympathisch weg. Fast muss man sich schuldig fühlen, wenn man seine Wohnung und seine Arbeit nicht verloren hat. Da kommt dann schnell der Vorwurf des Kollaborateurs mit dem System."



Seit ein paar Jahren wohnen Sie in einem Dorf an der Costa Blanca, zwischen Valencia und Alicante. In dieser Gegend spielen auch Ihre letzten beiden Romane. Das Ambiente ist deprimierend, geradezu abstossend. Fühlen Sie sich wohl dort?

Ich fühle mich so, wie sich das in meinen Büchern zeigt. Zubetonierte Küsten, schmutziges Sumpfland, Prostitution, Massentourismus, Immigration, Arbeitslosigkeit . . . Alles, was ich beschreibe, gibt es hier. Ich fürchte aber, wenn man das Skalpell in Paris, London oder München anlegen würde, kämen dieselben Triebkräfte zum Vorschein: Gier und Egoismus. Ich lebe zurückgezogen in den Bergen, mit meinen Hunden und Katzen. Die Gegend ist trotz allem angenehm, die Leute sind offen und freundlich, man bleibt nicht lange allein, das Klima ist – ausser im August – gut, man kann gut essen.

Das klingt nach Reiseprospekt. Liest man Ihre Romane, vergeht einem aber die Lust auf Strandferien an der Costa Blanca.

Wenn Sie in die Dominikanische Republik oder nach Mexiko reisen, sehen Sie auch nicht die Ungerechtigkeit oder den Horror, die dort herrschen. Sondern nur Palmen. Das ist eine Frage des Fokus.

Mehr hier - [Rafael Chirbes - Interview. NZZ Nr. 145 vom 26.06.2013]

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