(...) Der Onkel hob anerkennend... 
Montag, Mai 2, 2005, 18:44 - BÜCHER
... sein Glas. Dann meinte er, sich selber, nämlich sein eigenes, das eigene empirische Subjekt, habe Kant niemals zu berühren gewagt, nicht einmal beim An- oder Ausziehen, das habe er Lampe überlassen, seinem Diener - der musste ihn morgens einkleiden, abends ausziehen, wie eine Mutter ihr Kind, von den Kniestrümpfen bis zur Perücke. Aber noch rigoroser als die Sittlichkeit, fuhr der Onkel fort, habe der Vernunftphilosoph die Pünktlichkeit betrieben, davon sei er förmlich besessen gewesen, was schliesslich dazu geführt habe, dass ausgerechnet Kant, die verstaubteste aller Geistesperücken des gesamten Bestandes, den (sehr leise:) Strumpfgürtel erfunden habe. Ob ich wüsste, was das sei?
Ja, hätte ich beinahe gesagt, von Mama, aber ich hielt es für klüger, höchstens die Braue ein wenig zu heben, natürlich die linke, man wusste ja nie, wann die Stark mit ihrem Strickzeug in die Höhle huschte, um klickend weiterzustricken.
Immanuel Kant, habe ich an diesem Abend vom Onkel erfahren, machte tagtäglich einen Spaziergang, tagtäglich den gleichen, stets im gleichen Tempo, stets zur gleichen Zeit, so dass halb Königsberg nach dem pünktlich vorbeispazierenden Vernunftphilosophen seine Uhr zu richten pflegte. Passierte er den Markt, war es Viertel nach drei, bog er in die Lutherstrasse ein, war es sieben Minuten vor halb vier, keine Sekunde später, keine früher. Einige Jahre ging alles gut - kam Kant um die Ecke, zückten die Königsberger ihre Taschenuhr und brachten die Zeiger auf den richtigen Stand. Aber sei es, dass die Kniestrümpfe vom vielen Waschen lascher geworden waren, sei es, dass Lampe, der ihn einkleidende Diener, in seinem Diensteifer nachgelassen hatte - eines Tages begannen die Strümpfe zu rutschen, nach unten rutschten sie, und wollte der Vernunftphilosoph verhindern, ausgerechnet von den eigenen Kniestrümpfen blossgestellt zu werden, musste er alle paar Schritte anhalten, musste sich bücken und die Kniestrümpfe bis zu den Hosenbeinen hochziehen. Die Folge? In ganz Königsberg geriet die Zeit durcheinander, und sogar die Kirchen, deren Geläute auf den Gang des Philosophen abgestimmt war, bimmelten in verwirrten Abständen hintereinanderher. Aber Kant war Philosoph, Vernunftphilosoph, er dachte nach, und schliesslich hat er das Problem gelöst. Ein Hüftgürtel mit Bändeln sollte ihm die Kniestrümpfe festhalten. Gedacht, getan. Was der Philosoph ertüftelt hatte, führte sein Diener aus, und siehe da: Es war ein Volltreffer. Das Ding erfüllte seinen Zweck. Fortan musste Lampe jeden Morgen das feindselige Gürtelchen um die Kantschen Hüften legen und die Kniestrümpfe an dessen Bändeln festschnallen. Alle waren zufrieden. Lampe, eine eher schlichte Variante, durfte sich für seine Nähkunst loben, der Vernunftphilosoph kam störungsfrei über die Runden, und in ganz Königsberg hat die Zeit wieder gestimmt.
So weit, so gut. Aber was sollte ich aus dieser Adnote lernen? (...)

Thomas Hürlimann: FRÄULEIN STARK. Ammann Verlag & Co., Zürich.
Geniale Kürze. 
Donnerstag, April 28, 2005, 14:01 - BÜCHER
Biographie

Im Wasser geschlafen,
nach Luft gerungen,
ins Feuer gesprungen,
heimgekehrt in die Erde.

Erika Burkart, "Schweigeminute". Ammann Verlag.
Isolation... 
Sonntag, April 24, 2005, 16:28 - BÜCHER
... bedeutet Freiheit und Entdeckertum. Auf einer einsamen Insel kann es aufregender sein als in der Grossstadt, aber aufs Ganze gesehen hat mein Einzelgängertum wenig zu bedeuten. Es ist eine Folge zufälliger Umstände - lange zurückliegender Schiffbrüche, launenhafter Gezeiten - und keine Sache des Naturells. Als Privatmann bin ich gutmütig, herzlich, heiter, unkompliziert, offen und ehrlich.

Vladimir Nabokov, DEUTLICHE WORTE. Gesammelte Werke, Band XX; heraugegeben von Dieter E. Zimmer. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg.
Ein besonderer Diktionär. 
Sonntag, April 24, 2005, 15:34 - BÜCHER
Grossartig adj.
Was an Grösse und Glanz das dem Betrachter gewohnte Mass übertrifft, wie Eselsohren für ein Kaninchen oder die Herrlichkeit eines Glühwürmchens für eine Made.

Hund subst. masc.
Eine Art zusätzlicher oder Hilfsgottheit, dazu bestimmt, den in der Welt vorhandenen Überschuss an Verehrungsbedürfnis entgegenzunehmen. In einigen seiner kleineren und seidigen Verkörperungen nimmt dieses göttliche Wesen in der Zuneigung der Frau jenen Platz ein, auf den es keinen männlichen menschlichen Anwärter gibt.

Ich pron.
Das erste Personalpronomen, das erste Wort der Sprache, der erste Gedanke des Geistes, der erste Gegenstand der Zuneigung. Sein Plural soll "wir" lauten, aber wie es mich mehr als einmal geben kann, ist den Grammatikern zweifellos klarer als dem Verfasser dieses unvergleichlichen Diktionärs. Mich mir selbst in der Zweizahl vorzustellen, ist schwer, aber schön. Der freimütige und dabei anmutige Gebrauch von "ich" unterscheidet den guten Schriftsteller vom schlechten; dieser trägt das Wort wie ein Dieb, der seine Beute zu verbergen sucht.

Idiot subst. masc.
Mitglied eines grossen und mächtigen Stammes, dessen Einfluss in allen menschlichen Dingen immer beherrschend war. Die Tätigkeit des Idioten beschränkt sich nicht auf ein bestimmtes Gebiet des Denkens oder Handelns, sondern "durchdringt und beherrscht alles". Er hat in allem das letzte Wort; gegen seine Entscheidung gibt es keine Berufung. Er bestimmt die Moden der Meinungen und des Geschmacks, diktiert die Grenzen des Sagbaren und zieht eine Sperrlinie um das Verhalten der Menschen.

Sättigung subst. fem.
Das Gefühl, das man für die Schüssel empfindet, wenn der Inhalt verzehrt ist, Madame.

Ambrose Bierce: Aus dem Wörterbuch des Teufels. Insel Taschenbuch 440. ISBN 3-458-32140-3
NONNA! 
Mittwoch, April 13, 2005, 21:46 - BÜCHER
Mi aiuti un po' con mio libro di ricette?

Ich, der ich jetzt doch langsam weiss, wie das Leben so läuft,
weiss, was da wichtig ist und was nicht
(und es ist immer weniger, das wirklich wichtig ist),
weiss inzwischen sogar - dauerte aber lange bis zu dieser Erkenntnis -
dass "Wissen" häufig gleichzusetzen ist mit "voll im Irrtum" -
Ich also möchte jetzt, an dieser Stelle
und aus ganz aktuellem Anlass,
mal etwas ausführlicher als sonst
zum Thema Kochbücher berichten.
Ich brauche nämlich keine mehr.
Denn in meiner Küche hats genügend Kochbücher.
Ich besitze jede Menge davon.
Viel zu viele, um etwas präziser zu sein.
Wenn es denn ein "zuviel" in diesem Bereich überhaupt geben kann.
Ich habe nachgezählt: Über sechzig stehen in meinem Küchenschrank.
Grosse, kleine, dicke dünne, gute, weniger gute, kultige, unbekanntere, schöne, weniger schöne, häufig gebrauchte, selten benutzte...
Ich brauche also bestimmt KEIN EINZIGES neues Kochbuch mehr.
Sie vielleicht - aber ich nicht!
In einer Buchhandlung sind Kochbücher folglich das absolut Letzte, was ich suche.
Überhaupt - wenn ich koche, dann lasse ich die Kochbücher normalerweise sowieso beiseite.
Also. Kein Bedarf nirgendwo. Null. Thema erledigt. Basta.
Nun - vorgestern habe ich ein Kochbuch gekauft.
Ohne dass ich es wollte. Ich wollte eigentlich etwas ganz anderes.
Doch plötzlich lag da ein Buch - mehr noch: Da lag ein Versprechen!
Es war verschweisst; und kein Ansichtsexemplar in der Nähe.
Aus irgend einem rätselhaften, aber mir instinktiv völlig klaren Grund
fragte ich eine Verkäuferin, ob sie es mir doch bitte öffnen würde.
Nötig gewesen wäre es nicht - ich wusste eh: Ist meins...
Fünf Sekunden (ich schwöre: maximal zehn Sekunden) später die Bestätigung. Ich trabte sogleich zur Kasse.
Dabei wusste ich nicht mal genau, was da überhaupt alles drin war; ich hatte nur einen Blick, denjenigen für die Art und Weise der Illustration.
Und das war (ich sage dem jedenfalls so) "die linke Hand", die da illustriert hatte - die Hand, die vom Herzen kommt. Zuhause - ich ging sofort nach Hause, alles andere interessierte mich nicht mehr - entpuppte sich das Buch zu meinem Entzücken als ein Buch über die ligurische Küche, mit relativ einfachen Rezepten, nichts Spektakuläres, nichts Neues, nichts noch-nie-Dagewesenes - doch das ist genau das, was ich schon lange postuliere: Die einfache Küche ist die einzig Wahre, die Echte, die Schmackhafte - eben: die Wunderbare.
Das Buch ist übrigens weit mehr als ein Kochbuch: Es ist vor allem die beeindruckende Talentprobe einer Illustratorin, es ist zudem ein sehr persönliches Buch, in welchem das "Grosskind" seiner Grossmutter die Ehre erweist - und umgekehrt; zugleich ist es eine Art Tagebuch, Familien- und Lebensgeschichtenbuch, ein kleiner kulinarischer Sprachkurs, ein Stück Italien (und ganz, ganz ursprünglich ist es ja eigentlich nichts anderes als die Diplomarbeit zum Studienabschluss im Fachbereich Gestaltung/Illustration...) - sehr, sehr speziell!
Schon nur diese kleinen, farblich wunderbar harmonierenden unten-links-Vignetten bei den Rezepten sind ....., die sind einfach ..... h-i-m-m-l-i-s-c-h sind die, jawohl:

Larissa Bertonasco: La nonna - La cucina - La vita. Die wunderbaren Rezepte meiner Grossmutter.
Bilder und Texte von Larissa Bertonasco. Gerstenberg Verlag, Hildesheim.
ISBN 3-8067-2560-8
Ist erstens... 
Dienstag, April 5, 2005, 22:40 - BÜCHER
...ein wunderbares, absolut faszinierendes Buch -
und wäre zweitens: ein guter Name für ein Weblog.

Barbara Davatz: As time goes by. Portraits 1982, 1988, 1997.
Edition Patrick Frey. ISBN 3-905509-25-3
Steinobst, Mirabelle 
Dienstag, April 5, 2005, 18:41 - BÜCHER
so dicht an dicht, so zäh so weiss
besetzt: gespickt von süzzer blüthe!

so eng an eng, so reich: so sprachreich
der geruch -

und selbst der hagel, projektil vom bodn
federnd, hat ihr nichts angetan.

so schäumt die weisse sanft, an wilden
zweigen, während, april, der

steinobstmond - nervös, schwarzweiss,
textile nacht - in etwa überdauern kann.

Thomas Kling: AUSWERTUNG DER FLUGDATEN. Dumont, Köln.
ISBN 3-8321-7917-8
Im 'Gesang von der Bronchoskopie'... 
Dienstag, April 5, 2005, 18:15 - BÜCHER
...hat er sich kurz vor seinem Tod selbst nachgerufen. Er wird uns fehlen.
(Ina Hartwig, Frankfurter Rundschau online).

"mein handwerkszeug kann mir brot und tod geben!", spricht der
doctor,
der doctor, und nimmt sein gezähe zur hand. füllt vorher den
muthzettel aus.
und nimmt sein gezähe zur hand. der doctor teuft ein - unser
allwissend, doktor
hall-weisend, doctor halb, doktor alpwissend, du, eintäufer rein,
rein stocher
-stocher in meine gestochene, wie scharf gebeizte lunge.
wie soll man sich fühlen, wenn man am rande der grube steht?
fragt
der poundbärtige von wien in den hörer, als poundbärtig er am ran-
de der grube stand. nun! die grube bin ich. genau.
(...)

Thomas Kling: AUSWERTUNG DER FLUGDATEN. Dumont, Köln.
ISBN 3-8321-7917-8
Über das Leben nachdenken. 
Freitag, März 25, 2005, 12:44 - BÜCHER
Wenn wir sehen, dass der andere mit uns glücklich ist und durch unsere Liebe glücklich gemacht wird, werden wir glücklicher mit uns.
#
Es ist keineswegs beruhigend, von jemandem geliebt zu werden, der nichts von den Wesenszügen weiss, die uns unserer Ansicht nach nicht liebenswert machen könnten.
#
Vielleicht sollten wir uns Liebe als so etwas wie die Prägung bei Enten vorstellen, wo sich eine junge Ente an das erste grössere bewegliche Objekt, das sie in einer bestimmten Zeitspanne sieht, anhängt und ihm als seiner Mutter folgt.

Robert Nozick: "Vom richtigen, guten und glücklichen Leben / The Examined Life - Philosophical Meditations" - einige Gedanken aus dem 8. Kapitel "Das Band der Liebe."
Carl Hanser Verlag, München/Wien, 1991. ISBN 3-446-16091-4
Charakterisierung. 
Mittwoch, März 23, 2005, 18:40 - BÜCHER
Man könnte ihn
einen Denker nennen,
wenn er zu seinen vielen Fäden
ein Labyrinth gefunden hätte.

Hans Kudszus: Das Denken bei sich. Matto Verlag, Köln. ISBN 3-936392-01-3.

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