Andere Ansichten über den Sommer. 
Samstag, September 10, 2005, 08:11 - BÜCHER
Was machen jetzt all die Insekten? Ob die sich unter die parkenden Autos setzen und warten, bis alles vorbei ist? denkt sich der Sommerverächter, als er aufgrund eines Wolkenbruches das Zimmerfenster schliesst, was ihm gut passt, denn so hört er nicht das Gekreisch der halbnackten Menschen auf den Nachbarbalkonen, die Bier und Gebäck in Sicherheit bringen. Während er so nur angenehmes Prasseln und Platschen vernimmt, fällt sein Blick noch einmal auf die Postkarte, die ihm seine Freundin aus ihrem Urlaubsort aus dem hohen Norden zugeschickt hat. Er beschliesst, mit einem kleinen Brief zu antworten, setzt sich auf seinen Balans-Stuhl und schreibt: „Meine Liebe! Ich hätte jetzt gern einen Mantel an. Am liebsten den beigen Dufflecoat, den wir in Shetland gekauft haben, der mit den grossen Taschen, in die das Telefonbuch einer kleinen Grossstadt und noch mehr reinpasst. In der Welttemperaturtabelle der Neuen Zürcher Zeitung habe ich gelesen, dass es in Reykjavik nur sieben Grad hat. Wie ich dich beneide! Ich habe mir heute ein elektronisches Thermometer gekauft, mit Zehntelgradanzeige. Zwischen 18.00 und 23.30 (jetzt) ist die Temperatur in der Wohnung nur von 27,4° auf 27,2° zurückgegangen. Wenigstens regnet es. Weißt du eigentlich, was die Mücken bei Regen machen? Ich meine, wenn eine Mücke von einem dieser riesigen Regentropfen getroffen wird, müsste sie doch eine Gehirnerschütterung bekommen. (Macht die Hitze mich nicht geckenhaft reden?) Alles Liebe, bis zum Herbst, dein Sommerverächter.“
Abb.: Felix Valloton, Selbstbildnis.

Er geht zum Kleiderschrank, holt seinen Dufflecoat heraus, nimmt ihn in den Arm, ja: er umarmt seinen Mantel, der ein wenig muffig riecht und längst mal wieder ins Freie müsste. Er zieht den Mantel an, stellt sich vor den Spiegel, erschrickt wie immer ein wenig über sein rotes Schweissantlitz und denkt ‚Am besten seh ich aus, wenn ich ein wenig friere. Auch frierende Frauen sind hübscher. Habe ich nicht einmal zwei frierende junge Spanierinnen mit gelben Rucksäcken fotografiert?’ Der Kasten mit den Fotos seiner vielen Nordlandreisen müsste im Buchregal stehen. Der Sommerverächter geht hin und ihm fällt ein zerlesener kleiner Band in die Hand. Adalbert Stifters berühmte Schilderung eines Schneesturms im Bayerischen Wald. Er steckt ihn sich in die Manteltasche; vielleicht wird er sie heute noch einmal lesen. Herrlich, was alles in den Mantel hineinpasst! Alles: Geldbörse, Zigaretten, Einkaufsbeutel, Notizbuch und Lektüre für den Bus. Wohin damit im Sommer, zur mantellosen Zeit? (...)
Max Goldt: Der Sommerverächter. Delius + Company, literacard Nr. 11. ISBN 3-931870-10-3
Otto y el buldog toto... 
Mittwoch, September 7, 2005, 23:21 - BÜCHER
(...) Das kongenial auf o verknappte Jandl-Gedicht «ottos mops» kommt in einer Übersetzung von Francisco Díaz Solars fast episch daher: «otto y el buldog toto». Wenn Ottos Mops bloss kotzt bei Jandl, geht's dem Spanier ans Schuhwerk: «toto vomita el zapato». International ist Ernst Jandl noch zu lancieren. Sonst aber scheint Österreichs vor fünf Jahren verstorbener Dichter längst in der Gnade der Klassik. Dass ihn das Österreichische Literaturarchiv zum 80. Geburtstag mit einem eigenen Aufsatzband würdigt, ist mehr als billig. Das Archiv kann aus dem Vollen schöpfen. Der Nachlass Ernst Jandls immerhin ist in seinen Händen. (...)
Paul Jandl, NZZ Nr. 202, 31.08.2005

Ernst Jandl. Musik Rhythmus Radikale Dichtung. Zsolnay, Wien 2005.
Zufälliges verwandelt sich in Wahrscheinliches. 
Sonntag, September 4, 2005, 12:51 - BÜCHER
Neues zur «Ur-Lolita»: Michael Maar führt elegant den Indizienprozess.
(Den nachfolgenden Text verlinke ich nicht, weil die NZZ-Artikel im Netz meistens nach etwa zwei Wochen wieder verschwinden und nur noch für Abonnenten im Archiv greifbar sind):

Im März 2004 überraschte der Literaturkritiker Michael Maar die Nabokov-Fangemeinde mit einem Fund: 1916 hatte der drittklassige Autor Heinz von Lichberg eine schwülstige Novelle unter dem Titel «Lolita» veröffentlicht. Die Handlung liest sich wie eine Zusammenfassung von Nabokovs Erfolgsroman von 1955: In Alicante verfällt ein reifer Mann einem jungen Mädchen, das Lolita heisst. Aufgrund der frappierenden Ähnlichkeit von Titel, Plot und Name der Protagonistin entwickelte Maar eine «Kryptomnesie»-These: Nabokov habe Lichbergs Text während seiner Berliner Zeit zur Kenntnis genommen, später vergessen und schliesslich unbewusst wieder aufgegriffen.

Nabokov-Experten reagierten damals skeptisch auf Maars Sicht der Dinge. Mittlerweile hat Maar seine Interpretation zu einer schmalen Monographie ausgearbeitet, die auch einen Nachdruck von Lichbergs «Lolita» enthält. Maar präsentiert nun eine Reihe von Textstellen, die sogar eine bewusste Anspielung auf Lichbergs Novelle nahe legen. In Nabokovs Roman erinnert sich Humbert beim Anblick der badenden Lolita an die «spanische Tochter eines Aristokraten mit wuchtiger Kinnlade» - es ist durchaus möglich, dass der listige Meister in diesem scheinbar blinden Motiv eine Fährte zum Nationalsozialisten von Lichberg und seinem literarischen Kind aus dem Jahr 1916 gelegt hat. Dasselbe gilt für Nabokovs Drehbuch zum eigenen Roman: Lolita wird in einer Regieanweisung «kleine Gioconda» genannt - Heinz von Lichbergs Novelle erschien in einem Erzählband mit dem Titel «Die verfluchte Gioconda».

Überdies verweist Maar mit «Atomit» auf ein weiteres Prosastück aus der Feder von Lichbergs, das die Handlung von Nabokovs Drama «Walzers Erfindung» vorwegnimmt - auch der Familienname «Walzer» taucht bereits in der Lichberg-«Lolita» auf. Schliesslich zählt Maar eine Reihe von Namen aus Nabokovs späteren Werken auf, in denen der deutsche «Lolita»-Autor klanglich umspielt wird: Osberg, von Borg, Dalberg. Nabokov gilt als Liebhaber solcher Mystifikationen: Ursprünglich sollte «Lolita» unter einem Pseudonym erscheinen, weil Probleme mit dem prüden amerikanischen Sittengesetz absehbar waren. Allerdings sicherte sich der Autor eine geheime Präsenz in seinem Text, indem er eine Frau mit dem anagrammatischen Namen Vivian Darkbloom auftreten liess.

In seiner knappen Darstellung legt Michael Maar ein Kabinettstück literarischer Spürarbeit vor, die allerdings einen offenen Schluss hat. Der schlagende Beweis einer direkten Verbindung zwischen Lichberg und Nabokov steht noch aus, gleichwohl gelingt es Maar, einen Indizienprozess zu führen, in dem sich das Zufällige in Wahrscheinliches verwandelt.

Ulrich M. Schmid in der NZZ vom 03.09.2005.

Michael Maar: Lolita und der deutsche Leutnant. Suhrkamp, Frankfurt a.M. 2005. 100 S., Fr. 27.10.
Wie schön das ist - schade, verdammt noch mal. 
Freitag, August 26, 2005, 21:01 - BÜCHER
Don Horacio geht es gut - er steht mitten im prallen Leben, ist umgeben von einer grossen Familie, Orangenbäumen, seinem geliebten VW, seinen Kühen... Er handelt mit allen möglichen Dingen, am liebsten mit Antiquitäten - mit den schönsten Stücken, von denen er sich nicht trennen will, richtet er das Haus ein: So schläft die ganze Familie in Himmelbetten, und in fast allen Zimmern hängen prächtige Kristallkronleuchter.
Angesichts dieser Idylle scheint es auf den ersten Blick vielleicht schwer verständlich, dass diesen Mann immer öfter eine nahezu panische Verzweiflung überkommt, welche ihn beinahe um den Verstand bringt und ihn zunehmend vereinsamen lässt. Diese Panik unter der Dusche zum Beispiel: (...)...das Geschlecht, einst eine Rosenknospe, jetzt nur noch eine von Adern überzogene Wurst, an der zwei haarige Avocados runterhängen... (...) So soll denn tatsächlich wohl auch er nur eines dieser elenden Menschenwesen sein, die zwar hübsch auf die Welt kommen, sie aber hässlich verlassen?!

Tomás González: Horacios Geschichte. Roman. edition 8, Zürich. ISBN 3-85990-006-4
Was für ein Tag. 
Freitag, August 12, 2005, 09:54 - BÜCHER
An dem sich jemand im Insel-Verlag sagte: Das legen wir neu auf.
Ich darf (nicht zum ersten Mal...) vorstellen: Eines meiner liebsten Bücher überhaupt - ist wieder erhältlich.

Das Format ist zwar kleiner denn je.
Der Preis ebenfalls: 5 Euro.
Und der Name "Robert Gernhardt" ist unverhältnismässig aufgeplustert worden - stand früher mal
gleichwertig (=gleich gross) neben (na ja: über...) dem Namen "Almut Gernhardt". Bitteschön, der Beweis - nicht dass mir da noch jemand vorbeikommt und sagt, ich behaupte einfach irgendwas:

Denn die Bilder sind eigentlich das Grossartige.
Ich ändere das jetzt mal:

Almut Gernhardt: Was für ein Tag. Mit Texten von Robert Gernhardt.

Wer etwas Zeit und Mittel hat
verlässt im Sommer gern die Stadt
und fährt gen Süden, weil er meint,
dass dort die Sonne immer scheint. (...)

insel taschenbuch 3131. Insel Verlag, Frankfurt a.M. und Leipzig, erste Auflage 2005.
ISBN 3-458-34831-X
Nur in der Sehnsucht... 
Mittwoch, August 10, 2005, 23:02 - BÜCHER
... bin ich gross, in nichts sonst; und für wen gilt etwas anderes?
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Ein Kind zum andern: "Und was kannst du?" Das andere KInd: "Ich kann gar nichts." (Begeistert:) "Ich kann überhaupt nichts!"
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Diese Frau da: "So selbstgewiss wie reizlos." - Und jene dort: "Ihr fehlt etwas, und dadurch wirkt sie schön."
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Seltsam, dass mir gerade bei manchem, das sich nicht erfüllt hat, warm ums Herz wird (1. Aug. 1988).
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"On ne pleure pas dans la forêt!", Mutter zum schreienden Kind, im Forêt des Fausses Reposes, Versailles, 27. Juli.
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Bei deiner Rückkehr nach einem langen Unterwegssein werden alle zu dir sagen: "Wie hast du dich verändert!", und auf der Stelle wirst du wieder sein wie eh und je.
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Heute habe ich zum ersten Mal seit langem, in einer Stufengasse von Perugia, wieder die Leere erblickt (ja), und das war Schönheit.

Banales und Grossartiges, Wichtiges und Alltägliches, Winziges, gemeinhin Nebensächliches oder Unbedeutendes - Peter Handke wertet bzw. unterscheidet in seinem "Skizzenbuch" nicht, er hält lediglich fragmentarisch fest, was ihm aufzeichnenswert, was ihm von Bedeutung scheint, in überwiegend kurzen und kürzesten Texten - auf weit über 500 faszinierenden Seiten voller Ansichten und Einsichten, die permanente Glücksgefühle aufkommen lassen.
Ein Glücksfall sowieso, dieses Buch, von einem, der mich bisher doch häufiger etwas ratlos zurückgelassen hat.
Für mich nicht zuletzt auch deshalb ein Glücksfall, weil der Augenblicksdenker ["Der Augenblicksdenker": nur das bin ich] das Politische, die grossen Veränderungen in Europa zu dieser Zeit, in seinen Notaten völlig ignoriert, was einigen Rezensenten offenbar nicht gut bekommt...

Peter Handke: GESTERN UNTERWEGS. Aufzeichnungen November 1987 bis Juli 1990.
Jung und Jung, Salzburg und Wien, 2005. ISBN 3-902144-99-8
Damals war... 
Sonntag, August 7, 2005, 16:50 - BÜCHER
... immerzu Festtag. Die Mädchen brauchten nur aus dem Haus zu treten und über die Strasse zu gehen, da gerieten sie geradezu in einen Rausch; alles war, besonders nachts, so schön, dass sie, wenn sie todmüde heimkamen, noch immer hofften, dass irgend etwas passierte: dass ein Brand ausbräche, dass im Haus ein Kind geboren würde oder dass es womöglich mit einemmal Tag wäre und alle Leute auf die Strasse kämen und man immerzu gehen und gehen könnte, bis zu den Wiesen, bis hinter die Hügel. "Ihr seid ja gesund, ihr seid jung", sagten sie untereinander, "ihr seid Mädchen, ihr habt ja keine Sorgen." Und ebenso grundlos lachte eine von ihnen, Tina, die lahm aus dem Krankenhaus gekommen war und daheim nichts zu beissen hatte; eines Abends war sie, als sie hinter den anderen herhinkte, stehengeblieben und hatte angefangen zu weinen, weil Schlafen Unsinn wäre: es stiehlt der Freude Zeit. (...)

So beginnt DER SCHÖNE SOMMER von Cesare Pavese. Band 1238 der Bibliothek Suhrkamp.
ISBN 3-518-22238-4

Rolf Vollmann von der ZEIT (Nr. 42/2000) hat Cesare Pavese mal ein wunderbares Porträt unter dem Titel "Der Beischläfer der Göttin" gewidmet: "Seine letzte Liebe war eine amerikanische Schauspielerin, es gibt ein Foto von ihr, sie liebten sich Ende der vierziger Jahre, damals, jeder kennt solche Bilder, fotografierte man Filmstars wie Göttinnen. Und Pavese liebte sie, er schlief mit ihr; er schlief mit einer Göttin, mehr bedarf es nicht für ein Leben, wie der Dichter nach seiner Liebeslektion sagte. Was sollte er da noch hier?" (...)
Schaufensterauslage. 
Freitag, Juli 22, 2005, 13:10 - BÜCHER
Unverkäuflich.

Antiquariat Iberia (Jaime Romagosa); Hirschengraben 6, Bern.
Den Mond betrachtend. 
Donnerstag, Juli 21, 2005, 14:17 - BÜCHER

Paar, den Mond betrachtend.
Paul Flora: Zeichnungen 1938 - 2001. Diogenes, Zürich. ISBN 3-257-02075-9.
Wenn schon Rilke... 
Donnerstag, Juli 21, 2005, 10:20 - BÜCHER
Wer, wenn ich schriee, hörte mich denn aus der Engel
Ordnungen? und gesetzt selbst, es nähme
einer mich plötzlich ans Herz: ich verginge von seinem
stärkeren Dasein.
Denn das Schöne ist nichts als des Schrecklichen Anfang, den wir noch grade ertragen, und wir bewundern es so, weil es gelassen verschmäht, uns zu zerstören.
Ein jeder Engel ist schrecklich.
Und so verhalt ich mich denn und verschlucke den Lockruf
dunkelen Schluchzens. Ach, wen vermögen
wir denn zu brauchen? Engel nicht, Menschen nicht,
und die findigen Tiere merken es schon,
daß wir nicht sehr verläßlich zu Haus sind
in der gedeuteten Welt. Es bleibt uns vielleicht
irgend ein Baum an dem Abhang, daß wir ihn täglich
wiedersähen; es bleibt uns die Straße von gestern
und das verzogene Treusein einer Gewohnheit,
der es bei uns gefiel, und so blieb sie und ging nicht.
O und die Nacht, die Nacht, wenn der Wind voller Weltraum
uns am Angesicht zehrt -, wem bliebe sie nicht, die ersehnte,
sanft enttäuschende, welche dem einzelnen Herzen
mühsam bevorsteht. Ist sie den Liebenden leichter?
Ach, sie verdecken sich nur mit einander ihr Los.
Weißt du's noch nicht? Wirf aus den Armen die Leere
zu den Räumen hinzu, die wir atmen; vielleicht daß die Vögel
die erweiterte Luft fühlen mit innigerm Flug.

Rainer Maria Rilke. Duineser Elegien: die erste.

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